Du sagst, mein Brief, worin ich Dir wunschgemäß vom Tode meines Oheims schrieb, habe bei Dir das Verlangen erregt, auch von den furchtbaren Vorfällen und Schrecknissen zu hören, die ich zu bestehen hatte, als ich in Misenum geblieben war, denn damit brach ich meinen Bericht ab. »So will ich denn beginnen, wenn ich auch schaudernd daran zurückdenke.«

Nach der Abfahrt meines Oheims brachte ich die restliche Zeit des Tages mit Arbeiten hin, deshalb war ich ja zurückgeblieben. Dann kam das Bad, die Mahlzeit und ein kurzer, unruhiger Schlummer. Schon seit vielen Tagen hatte man ein Erdbeben verspürt, aber weil Kampanien dies gewöhnt ist, erweckte es kaum Befürchtungen. In jener Nacht aber wurde es so stark, daß alles nicht bloß in Bewegung zu geraten, sondern zugrunde zu gehen schien. Die Mutter stürzte in mein Schlafzimmer - ich wollte eben aufstehen, um sie zu wecken, wenn sie noch schliefe. Wir setzten uns in den Hof, der in kleinem Zwischenraum die Gebäude vom Meere trennte. Ich weiß nicht, soll ich es Unerschrockenheit oder Unüberlegtheit nennen (ich war damals erst achtzehn Jahre alt): kurz, ich lasse mir Titus Livius' Geschichtswerk geben, lese darin, als hätte ich keine anderen Sorgen, und setze sogar meine angefangenen Auszüge daraus fort. Da erscheint plötzlich ein Freund meines Oheims, der vor kurzem aus Spanien zu ihm gekommen war, er findet mich und meine Mutter hier sitzen, mich sogar bei der Lektüre; da macht er der Mutter wegen ihrer Gleichgültigkeit, mir wegen meiner Fahrlässigkeit heftige Vorwürfe. Ich aber bleibe fest bei meinem Buche. Schon war es sechs Uhr morgens geworden, es zeigte sich aber nur ein mattes, sozusagen schläfriges Licht. Die Gebäude ringsum hatten bereits unter den Erschütterungen gelitten, und man hatte alle Ursache, ihren unvermeidlichen Einsturz zu befürchten; zwar befand man sich im Freien, der erwähnte Hofraum bot aber wenig Platz. Da erst entschlossen wir uns, die Stadt zu verlassen. Eine fassungslose Menge schließt sich uns an; bei der großen Aufregung halten es die Leute für klüger, fremder Einsicht statt der eigenen zu folgen, und nun drängen und stoßen die Flüchtenden uns in endlosem Zuge vorwärts.

Als wir die Häuser hinter uns hatten, machten wir halt. Hier erwarteten uns viele Wunder, viele Schrecken. Die Wagen, die wir hatten vorausfahren lassen, rollten nämlich trotz völliger Ebenheit des Bodens nach allen Richtungen hin und blieben selbst dann nicht auf ihrer Stelle, wenn man Steine vor die Räder schob. Weiter hatten wir den Eindruck, das Meer verschlinge sich selbst, und zwar werde es durch die Erdstöße gleichsam zurückgedrängt. Jedenfalls hatte sich der Strand vergrößert, und eine Menge Seetiere bedeckten den trockengelegten Sandboden. Auf der andern Seite aber ward ein schauerliches, feuerspeiendes Schwarzgewölk kreuz und quer in Schlangenlinien zerrissen und loderte schließlich in länglichen Flammengarben auf, die Blitzen glichen, aber größer waren.

Daraufhin drängte der genannte Freund aus Spanien heftiger in uns und rief »Wenn dein Bruder, dein Oheim noch am Leben ist, so will er eure Rettung, und wenn er tot ist, so wollte er, daß ihr ihn überlebt; warum zögert ihr also zu fliehen?« Wir entgegneten: »Nicht eher sind wir imstande, an unsere Rettung zu denken, bevor uns nicht die seinige gewiß ist.« Er verweilt nun nicht länger, stürzt fort und entzieht sich in raschestem Laufe der Gefahr.

Bald darauf läßt sich jene Wolke auf die Erde herab und bedeckt weithin das Meer. Sie hatte die Insel Capri verhüllt, die hinter ihr verschwunden war, und hatte auch das Vorgebirge von Misenum unserem Blicke entzogen. Jetzt bat, mahnte, befahl meine Mutter, ich möge fliehen, so gut ich könne: »Du bist noch jung und kannst es, ich aber bin alt und gebrechlich und sterbe gern, wenn ich nur nicht an deinem Tod die Schuld trage." Ich dagegen: »Nur mit dir zugleich will ich mich retten!" Und damit ergreife ich ihre Hand und dringe in sie, schneller zu gehen; sie tut es, aber ungern, und macht sich Vorwürfe, daß sie mich aufhalte.

Schon regnete es Asche, vorläufig noch nicht viel. Ich blickte zurück: ein dicker Rauchqualm drohte hinter uns, der wie ein Gießbach niederstürzte und uns folgte. »Biegen wir von der Straße ab" , sage ich, »solange wir noch sehen können, damit wir nicht, wenn wir auf der Straße bleiben, in der Finsternis von der uns begleitenden Menschenmasse zertreten werden." Kaum hatten wir uns gesetzt, so brach tiefes Dunkel herein, und zwar nicht wie in mondlosen Nächten oder bei starker Bewölkung, sondern wie in einem völlig geschlossenen Raume, wenn das Licht erlischt. Nun hörte man Weibergeheul, Kindergewimmer, Männergeschrei; man rief nach Eltern, Kindern, Gatten und erkannte einander bloß an der Stimme; die einen bejammerten ihr eigenes Unglück, andere das der Ihrigen; es gab sogar Leute, die aus Angst vor dem Tode sich den Tod erbaten; viele hoben die Hände zu den Göttern; zahlreicher aber waren die Rufe, es gebe überhaupt keine Götter mehr und die letzte, ewige Nacht sei über die Welt hereingebrochen. Es fehlte auch nicht an Leuten, die durch erlogene Schauergeschichten die tatsächliche Gefahr noch vergrößerten. Manche erzählten, in Misenum sei dies in Trümmer gegangen, anderes brenne lichterloh - blinder Lärm, aber alles fand Glauben.

Endlich wurde es ein wenig licht; das schien uns aber nicht Tageshelle, sondern das Zeichen eines nahenden Feuers zu sein. Der Feuerschein blieb allerdings in größerer Entfernung, wieder brach Finsternis herein, und wieder fiel eine Menge schwerer Asche. Wir mußten sie durch wiederholtes Aufspringen abschütteln, sonst hätte sie uns ganz überdeckt und durch ihre Last sogar erdrückt.

Ich könnte mich rühmen, daß mir kein Seufzer, kein verzagter Laut in dieser argen Gefahr über die Lippen gekommen ist, wenn ich nicht - ein trauriger, aber großer Trost im drohenden Tode - fest überzeugt gewesen wäre, ich ginge nun mit allem und alles mit mir zugrunde.

Endlich verflüchtigte sich die Düsternis und löste sich sozusagen in einen Rauchnebel auf. Bald wurde es wirklich Tag, die Sonne leuchtete sogar hervor, aber nur ganz fahl, wie dies gewöhnlich bei einer Sonnenfinsternis der Fall ist. Alles erschien dem noch geängstigten Blick verändert, denn es war alles hoch mit Asche wie mit Schnee überzogen.

Nach Misenum zurückgekehrt, sorgten wir für unser leibliches Wohl, so gut es eben ging, und verbrachten die Nacht ruhelos, zwischen Furcht und Hoffnung schwankend. Die Furcht herrschte vor; denn die Erdstöße dauerten weiter an, und sehr viele Leute täuschten wie in wahrer Verrücktheit durch schreckhafte Weissagungen sich und andere über eigenes und fremdes Unglück. Doch kam es uns, obwohl wir die Gefahr schon aus Erfahrung kannten und immer aufs neue gewärtigten, auch jetzt nicht in den Sinn fortzugehen, bevor wir Kunde vom Oheim hatten.

Du wirst diesen Bericht lesen, ohne ihn aber in Dein Geschichtswerk aufzunehmen, für das er nicht geeignet ist; doch mußt Du es schon Deinem eigenen Wunsch zuschreiben, wenn Du findest, daß er nicht einmal einen Brief verdient hätte. Lebe wohl.

Aus: Plinus der Jüngere - Briefe; übersetzt von Mauriz Schuster, Reclam, 1953

zurück